Vorweg die juristische Selbstverständlichkeit: Wer Tatsachen behauptet, trägt die Beweislast. Die AfD im Düsseldorfer Landtag verbreitet seit Anfang November die Behauptung, pro Windrad entstünden „eine Tonne“ Mikroplastik-Abrieb, hochgerechnet aus angeblich 40 Kilogramm pro Jahr. Das klingt groß, ist aber fachlich klein. Aktuelle, begutachtete Studien und Verbandsangaben zeigen: Diese Zahl ist um Größenordnungen überzogen.
Worum es fachlich geht
- Erosion an der Vorderkante von Rotorblättern ist real. Regen, Hagel, Schnee treffen die Blattspitzen mit Relativgeschwindigkeiten bis etwa 360 km/h; Tropfen wirken wie Schleifmittel. Dabei werden Partikel abgetragen.
- Diese Partikelemissionen sind im Bereich Gramm pro Blatt und Jahr messbar. Sie können ohne Wartung die Aerodynamik beeinträchtigen, weshalb Betreiber Kanten reparieren und Schutzbeschichtungen einsetzen.
- Aus Emission wird nicht automatisch Umweltlast: Relevanz entsteht erst aus Menge, Eintragsort und Persistenz. Genau hier scheitert die „Eine-Tonne“-Rhetorik.
Was die neuesten Studien tatsächlich zeigen
- TU Dänemark, 2024 (technische Modellierung und Messdaten):
- Onshore: ca. 8–50 g Abrieb pro Rotorblatt und Jahr.
- Offshore: ca. 80–1.000 g pro Rotorblatt und Jahr.
- Übliche Anlagen haben drei Rotorblätter. Selbst im Offshore-Maximum (1.000 g/Blatt/Jahr) ergibt das 3.000 g pro Anlage und Jahr. Über 25 Jahre: 75.000 g = 75 kg = 0,075 Tonnen.
- Niederlande, 2024 (Schätzung moderner Offshore-Anlagen):
- Rund 240 g Mikroplastik pro Anlage und Jahr. Über 25 Jahre: ca. 6 kg = 0,006 Tonnen.
- Bundesverband WindEnergie (BWE), Positionspapier August 2024:
- Mittelwert aus Praxisdaten: ca. 2,74 kg pro Anlage und Jahr (Spanne aus Key Wind Energy: 3,38 kg und Deutsche Windtechnik: 2,1 kg).
- Über 25 Jahre: rund 68,5 kg = 0,069 Tonnen.
Fazit aus den Zahlen: Seriöse Bandbreite liegt – je nach Standort, Technik und Wartung – im Bereich einiger hundert Gramm bis weniger Kilogramm pro Anlage und Jahr. Eine „Tonne pro Windrad“ ist fachlich nicht haltbar. Punkt.
Einordnung: Gesamtmengen und relevante Vergleichsgröße
- Deutschland (2024): ca. 28.766 Windenergieanlagen. Rechnen wir konservativ mit 3 kg pro Anlage und Jahr, ergibt das rund 86 Tonnen Abrieb jährlich.
- Vergleich Straßenverkehr: Reifenabrieb in Deutschland liegt nach Fraunhofer UMSICHT bei bis zu 100.000 Tonnen pro Jahr – also um drei Größenordnungen höher. Andere Studien nennen teils noch höhere Werte.
- Konsequenz: Wer Mikroplastik ernsthaft reduzieren will, findet die große Stellschraube nicht an der Windenergie, sondern auf der Straße.
Woher stammt die falsche „Tonne“?
- Verweis der AfD: eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags (2020), die sich auf Fraunhofer IWES stützte. Dort wurde ein theoretischer „Worst Case“ von 45 kg pro Anlage und Jahr als obere Schranke gerechnet – ausdrücklich mit dem Hinweis, dass der reale Abrieb „mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich darunter“ liegt.
- Aktueller Stand: Fraunhofer IWES verweist heute auf die neueren Angaben im BWE-Positionspapier (2024). Sprich: Die Wissenschaft hat nachgelegt – und die Zahlen wurden kleiner, nicht größer.
Technikfortschritt reduziert Abrieb zusätzlich
- Schutzsysteme: Kantenfolien und belastbare Beschichtungen verringern Erosion deutlich.
- Wartung: Condition Monitoring und regelmäßige Reparaturen halten die Aerodynamik stabil und senken Materialverlust.
- Größere Rotoren bedeuten nicht automatisch mehr Abrieb; entscheidend sind Kantenbelastung, Betriebsführung und Schutzsystem.
Rechtlich-praktische Einordnung
- Es handelt sich bei „eine Tonne pro Windrad“ um eine Tatsachenbehauptung. Für solche gilt eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Wer sie öffentlich verbreitet, sollte aktuelle, belastbare Quellen anführen – und nicht veraltete Worst-Case-Szenarien zu Gewissheiten umdeuten.
- In der politischen Kommunikation darf man Meinung äußern. Was nicht geht: Fakten erfinden. Das ist kein Beitrag zur Debatte, sondern zur Desinformation.
Warum das politisch relevant ist
- Die Energiewende ist kein „Umweltfreifahrtschein“, sie ist eine Infrastrukturaufgabe mit Prüfpflichten und Standards – genau deshalb gibt es Normen, Genehmigungen, Monitoring.
- Wer die Energiewende als „gewaltige Umweltsünde“ tituliert, ignoriert den realen Nutzen: Klimaschutz, Energieunabhängigkeit, Luftreinhaltung. Und verwechselt mikroskopische Abriebmengen mit makroskopischer Problemlösung.
- Kurz: Wer saubere Luft, weniger CO₂ und weniger geopolitische Abhängigkeiten will, bekommt das mit Windenergie – nicht mit Schlagworten.
Kurzfazit
- Nein, Windräder sind keine Mikroplastik-Schleudern. Ja, es gibt Abrieb – in Gramm- bis niedrigen Kilogramm-Bereichen pro Jahr und Anlage.
- Selbst die oberen seriösen Schätzungen liegen weit unter der von der AfD verbreiteten „Tonne pro Windrad“.
- Wer Klimaschutz sabotieren will, versucht Angst zu verkaufen. Wer Verantwortung übernimmt, arbeitet mit Zahlen.
