Teaser: Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche von Wirecard-Aktionären sind in der Insolvenz keine einfachen Forderungen. Sie treten hinter die übrigen Insolvenzgläubiger zurück. Angesichts der Zahlen ist eine Auszahlung an Aktionäre faktisch ausgeschlossen.
Einordnung
Wer Aktien kauft, übernimmt unternehmerisches Risiko. Das ist keine Geschmacksfrage, sondern die Grundarchitektur des Gesellschafts- und Insolvenzrechts. Der Bundesgerichtshof (Az. IX ZR 127/24) hat am 13. November 2025 klargestellt: Auch wenn Anleger beim Erwerb von Wirecard-Aktien getäuscht wurden, stehen ihre kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche in der Insolvenz hinter den Ansprüchen der einfachen Insolvenzgläubiger. Übersetzt: Es wird für Aktionäre kein Geld aus der Insolvenzmasse geben, es sei denn, nach vollständiger Befriedigung aller vorrangigen Forderungen bliebe ein Überschuss – was angesichts der Zahlen reine Theorie ist.
Die harten Fakten
- Insolvenzmasse: rund 650 Millionen Euro.
- Angemeldete Forderungen insgesamt: rund 15,4 Milliarden Euro.
- Davon rund 8,5 Milliarden Euro von etwa 50.000 Wirecard-Aktionären aus aktienrechtlich veranlassten Schadensersatzansprüchen.
- Ergebnis: Aktionärsansprüche sind nicht Forderungen nach § 38 InsO. Sie sind nachrangig und nur im Fall eines Überschusses (§ 199 InsO) oder jedenfalls hinter den einfachen Gläubigern zu bedienen.
Was der BGH entschieden hat
- Keine einfachen Insolvenzforderungen: Die geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche der Aktionäre sind mit der Gesellschafterstellung untrennbar verknüpft. Wer sich an einer AG beteiligt, steht den unternehmerischen Risiken näher als jeder Fremdgläubiger. Genau diese Risikozuordnung zieht die Rangordnung der Insolvenzordnung nach.
- Verteilungskonflikt, nicht Haftungsfrage: In der Insolvenz geht es nicht mehr darum, ob die Gesellschaft zivilrechtlich haftet, sondern darum, wie die knappe Masse verteilt wird. In dieser Verteilung stehen Aktionäre hinter den einfachen Insolvenzgläubigern.
- Rangklärung im Ergebnis: Der BGH musste nicht abschließend entscheiden, ob diese Ansprüche nur im Überschussverfahren (§ 199 InsO) oder analog als nachrangige Insolvenzforderungen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) zu berücksichtigen sind – entscheidend ist: Sie sind nicht gleichrangig mit § 38 InsO.
- Prozessualer Rahmen: Das Berufungsurteil des OLG München, das Aktionärsansprüche als einfache Insolvenzforderungen zulassen wollte, wurde aufgehoben. Soweit es um eine Zwischenfeststellungswiderklage des Insolvenzverwalters ging, blieb die Revision ohne Erfolg – für deren weitergehende Feststellung bestand kein Rechtsschutzinteresse.
Warum das juristisch zwingend ist
- Aktionär = Mitunternehmer: Gewinne ja, aber eben auch das volle Verlustrisiko. Diese Risikotragung lässt der Gesetzgeber in der Insolvenz konsequent vorgehen: Erst die Fremdgläubiger, dann – wenn überhaupt – die Gesellschafter.
- Täuschung ändert den Rang nicht: Dass Anleger im Vertrauen auf falsche Ad-hoc-Mitteilungen oder manipulierte Zahlen kauften, mag Schadensersatzansprüche begründen. Aber es macht aus Gesellschaftern keine Fremdgläubiger. Zweck des Geschäfts war die Beteiligung an der Gesellschaft – und damit das Mittragen des unternehmerischen Risikos.
- Systemschutz: Die Rangordnung ist kein Formalismus, sondern Stabilitätsanker. Würde man Aktionärs-Schadensersatzansprüche mit einfachen Insolvenzforderungen gleichstellen, würde die Finanzierung von Unternehmen insgesamt destabilisiert. Recht mag unromantisch sein – aber es muss verlässlich sein.
Was bedeutet das konkret für Privatanleger?
- Realistische Aussicht: Praktisch keine Quote aus der Insolvenzmasse. Bei 650 Millionen Euro Masse und 15,4 Milliarden Euro Forderungen ist ein Überschuss ausgeschlossen.
- Geltendmachung außerhalb der Masse: Wer Ansprüche prüfen will, muss auf andere Anspruchsgegner und Verfahren schauen (etwa Organhaftung, Prüfungsstellen etc.). Dieses BGH-Urteil regelt ausdrücklich nur die Verteilung der Insolvenzmasse. Es sagt nichts über die Erfolgsaussichten anderer Prozesse.
- Diversifikation ist kein Buzzword: Ein DAX-Logo ist kein Garantieschein. Aufsicht, Prüfer, Rating, Indexaufnahme – all das reduziert Risiko, hebt es aber nicht auf.
Kurz erklärt: Nachrang in der Insolvenz
- Einfache Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO): Klassische Fremdgläubiger mit fälligen Vermögensansprüchen zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung – z. B. Lieferanten, Dienstleister, Banken mit Kreditforderungen.
- Nachrangige Position: Gesellschafternahe Ansprüche treten hinter diese Gläubiger zurück. Aktionärsansprüche aus dem aktienbezogenen Erwerb sind davon umfasst.
- Überschussverteilung (§ 199 InsO): Erst wenn alle einfachen Insolvenzgläubiger vollständig bedient sind, kommt ein verbleibender Überschuss überhaupt zur Verteilung an Gesellschafter. Bei Wirecard ist das akademisch.
Einordnung jenseits der Schlagzeile
- Ja, die Kontrollmechanismen haben versagt – mehrfach. Aber das ändert nichts an der insolvenzrechtlichen Verteilungslogik. Recht ist keine Reparaturwerkstatt für enttäuschte Renditehoffnungen, sondern eine Ordnung für Knappheit.
- Populistische Sündenbocksuche bringt hier exakt gar nichts. Entscheidend sind Beweise, Tatbestände, Normen. Genau die hat der BGH sauber übereinandergelegt.
Rechtlicher Hinweis
Dieser Beitrag stellt keine Rechtsberatung dar. Maßgeblich ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. November 2025 (Az. IX ZR 127/24) und die dort zugrunde gelegte Begründung. Stand: 13.11.2025.
Quelle zum Nachlesen
Bundesgerichtshof, Pressemitteilung Nr. 211/2025 vom 13.11.2025, Urteil IX ZR 127/24:
https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/2025211.html
