Bochum: Wenn der Staatsschutz das Kindeswohl per 9mm sichert – Ein Lehrstück über Verhältnismäßigkeit bei Gehörlosen

Es ist immer wieder erfrischend zu sehen, wie gut unsere Exekutive darin geschult ist, deeskalierend auf vulnerable Gruppen einzuwirken. Man möchte fast applaudieren, wenn es nicht so tragisch wäre.

Der Sachverhalt: In Bochum dachten sich die Beamten in der Nacht zu Montag offenbar, dass man das Kindeswohl am besten mit einer Dienstwaffe verteidigt. Es ging um eine Zwölfjährige. Gehörlos. Das Kind war aus einer Wohngruppe in Münster abgängig und hielt sich bei der Mutter auf (die das Sorgerecht verloren hatte). Die Polizei wollte das Kind eigentlich retten, weil es dringend medikamentös eingestellt werden muss.

Das Ergebnis dieser „Rettung“? Das Kind liegt mit einem Bauchschuss auf der Intensivstation. Stabil, aber kritisch.

Die Taktik der „Profis“: Die Beamten verschafften sich Zutritt zur Wohnung, nachdem die Mutter (ebenfalls gehörlos) fixiert vor der Tür im Flur lag. Drinnen: Die Zwölfjährige mit zwei Messern. Nun könnte man meinen, dass vier ausgebildete Polizeibeamte in Schutzausrüstung in der Lage wären, ein zwölfjähriges Mädchen ohne den Einsatz letaler Gewalt zu überwältigen. Oder man könnte annehmen, dass man bei einer bekannten Gehörlosigkeit vielleicht vorher überlegt, wie man kommuniziert, wenn „Halt, Polizei!“ akustisch ins Leere läuft. Ein Gebärdendolmetscher? War nicht dabei. Man wollte ja „schnell zum Arzt“. Die Ironie ist kaum zu überbieten.

Juristische Feinheiten (für die Laien unter uns): Schusswaffengebrauch gegen Kinder (Personen unter 14 Jahren) ist nach den Polizeigesetzen (hier PolG NRW) die absolute Ultima Ratio. Es ist quasi verboten, es sei denn, es besteht eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben. Die offizielle Lesart der Staatsanwaltschaft Bochum und Polizei Essen lautet nun: Das Mädchen stand „unmittelbar“ vor den Beamten.

Und jetzt kommt der Teil, der physikalisch und taktisch Fragen aufwirft: Es wurde gleichzeitig getasert und geschossen. Ein Beamter nutzte das Elektroimpulsgerät (Taser), der andere die Schusswaffe. Simultan. Das deutet für den geschulten Beobachter weniger auf eine kontrollierte Lagebewältigung hin, als vielmehr auf eine panische Überreaktion, bei der die Abstimmung im Team komplett versagt hat. Wenn man Zeit zum Tasern hat, warum muss dann zeitgleich das Projektil fliegen?

Das Framing: Die GdP (Gewerkschaft der Polizei) spricht von einem „extrem belastenden Ereignis für alle Beteiligten“ und warnt vor der Gefahr von Messern. Natürlich. Niemand bestreitet die Gefahr von Messern. Aber wir reden hier von Profis gegen ein Kind mit Handicap. Die Frage, ob die Bodycams liefen, ist übrigens noch „Gegenstand der Ermittlungen“. Wir dürfen gespannt sein, ob die Technik zufällig gerade defekt war, der Akku leer, oder ob man tatsächlich Transparenz wagt. In NRW müssen die Kameras nämlich aktiv eingeschaltet werden.

Fazit: Wir halten fest: Um ein Kind vor dem Fehlen lebenswichtiger Medikamente zu schützen, schießt man es ins Krankenhaus. Das ist die Logik eines Polizeiapparates, der offensichtlich massive Defizite im Umgang mit Menschen mit Behinderung hat. Wer hier nicht sofort strukturelle Probleme in der Ausbildung und Einsatzplanung erkennt, dem ist nicht mehr zu helfen. Es bleibt zu hoffen, dass die „transparente Aufarbeitung“, die die GdP fordert, nicht im üblichen Korpsgeist endet.

Gute Besserung an das Opfer.

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