Kommentar: Der EU „Digital Omnibus“ – oder wie man Grundrechte unter dem Radar an Big Tech verramscht

Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass in Brüssel mal wieder die Weichen falsch gestellt werden – und zwar massiv. Während die Öffentlichkeit noch damit beschäftigt ist, sich über Kinkerlitzchen zu echauffieren, bereitet die EU-Kommission gerade den größten Rückschritt für digitale Grundrechte in der Geschichte der Union vor. Unter dem euphemistischen Label „Digital Omnibus“ wird uns hier eine „technische Straffung“ verkauft. Wer den Brüsseler Neusprech beherrscht, weiß sofort: „Straffung“ bedeutet Deregulierung, und „technische Anpassung“ heißt in der Regel, dass die Lobbyisten von Big Tech den Stift geführt haben.

Zusammen mit 126 anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir heute einen offenen Brief unterzeichnet, um diesen Wahnsinn vielleicht noch zu stoppen.

Der Trick mit der „Vereinfachung“

Die Methode ist so alt wie durchschaubar: Man nehme ein Bündel an Gesetzesänderungen, klebe das Etikett „Bürokratieabbau“ darauf und schleuse es im Eilverfahren an der demokratischen Kontrolle vorbei. Das Ziel? Die DSGVO, die ePrivacy-Richtlinie und das KI-Gesetz sollen ausgehöhlt werden.

Es geht hier nicht um ein paar unbedeutende Paragrafen. Es geht um die Kernsubstanz dessen, was uns vor totalitärer Überwachung und algorithmischer Diskriminierung schützt. Die Kommission plant allen Ernstes, die Definition personenbezogener Daten so weit aufzuweichen, dass Unternehmen ihre Hausaufgaben künftig selbst benoten dürfen. Faktisch würde dies bedeuten: Wenn ein Konzern behauptet, Daten seien pseudonymisiert, dann sind sie das – selbst wenn jeder Informatiker im ersten Semester sie deanonymisieren könnte.


Warum Datenschutz Antifaschismus ist

Kommen wir zum unangenehmen Teil, den viele in der bürgerlichen Mitte gerne überhören: Eine Infrastruktur, die Überwachung ermöglicht, ist eine Waffe. Die Kommission will Regeln schwächen, die verhindern, dass Regierungen und Unternehmen ständig verfolgen, was Menschen auf ihren Geräten tun. Standortdaten, Besuche in Gesundheitseinrichtungen oder Gotteshäusern sollen leichter abgreifbar werden.

Lassen Sie uns das mal kurz juristisch und politisch durchdeklinieren: Wir erleben gerade einen Rechtsruck. Wenn wir Datenbanken und Überwachungsinstrumente schaffen, die „ethnische Herkunft“ oder „religiöse Überzeugungen“ aus Metadaten extrahieren können, dann liefern wir den Feinden der Demokratie das Besteck frei Haus. Datenschutz ist kein „Täterschutz“, wie Demagogen gerne behaupten. Datenschutz ist der Schutz potenzieller Opfer vor einem übergriffigen Staat.

Wer Integration ernst meint, darf keine digitalen Rasterfahndungsmethoden legalisieren, die Menschen ohne Papiere oder Minderheiten noch weiter stigmatisieren und kontrollieren. Wir brauchen keine effizienteren Abschiebe-Algorithmen, sondern eine humane Gesellschaft. Die Deregulierung, die hier angestrebt wird, spielt jedoch genau jenen in die Hände, die von einer „sauberen“ Gesellschaft träumen.

KI-Training auf Kosten der Grundrechte

Besonders perfide ist der Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Die wenigen Schutzmaßnahmen, die wir im KI-Gesetz mühsam erkämpft haben, sollen für das Training von KI-Modellen wieder kassiert werden. Man will Strafen für den Verkauf gefährlicher KI-Systeme aufschieben. Im Klartext: US-Konzerne sollen unsere sensibelsten Daten abgreifen dürfen, um damit ihre energiefressenden Modelle zu füttern – auf Kosten des Planeten und unserer Privatsphäre. Die Anbieter könnten sich dabei einseitig und heimlich von Verpflichtungen befreien.

Die Rolle der Bundesregierung

Man höre und staune: Es ist ausgerechnet die deutsche Bundesregierung, die hier als treibende Kraft für die Aushöhlung des Datenschutzes auftritt. Statt europäische Werte zu verteidigen, macht man sich zum Erfüllungsgehilfen einer Industrie, deren Geschäftsmodell auf der Ausbeutung menschlicher Verhaltensdaten basiert. Das ist nicht nur politisch kurzsichtig, das ist fahrlässig.

Fazit

Es ist noch nicht zu spät, diesen Unsinn zu stoppen. Aber dafür muss man verstehen, was auf dem Spiel steht. Es geht nicht um „Cookie-Banner“. Es geht darum, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der unsere Lebenschancen von undurchsichtigen KI-Systemen bestimmt werden und in der unsere Privatsphäre nur noch auf dem Papier existiert.

Die EU muss aufhören, Gesetze wie die DSGVO als „Bürokratie“ zu diffamieren. Sie sind der einzige Schutzwall, den wir gegen digitale Ausbeutung und Überwachung haben. Wer diesen Wall einreißt, öffnet die Tore nicht für „Innovation“, sondern für Willkür.

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